Bomben auf Sachsenhausen
Im September 1944 fand um die Mittagszeit ein schwerer Angriff auf Frankfurt statt. Zu dieser Zeit arbeitete ich bereits als Betriebsleiter im Werk Süd von Fries Sohn in der Schulstraße in Sachsenhausen. Wir produzierten kriegswichtige Geräte aus den verschiedensten Metallen, in der Hauptsache aber Torpedobehälter für die Kriegsmarine und übermannsgroße Eisenbojen, die wie zwei gegeneinandergestellte Kegel aussahen und zur Markierung von Minensperrgürteln in der Nordsee verwendet wurden.
Zu der Zeit, als es Fliegeralarm gab, befand ich mich bei einer Besprechung im Hauptwerk im Riederwald. Mit dem Fahrrad eilte ich in den Luftschutzbunker. Die bald einsetzenden Detonationen und Erschütterungen machten klar, daß der Angriff wieder einmal Frankfurt galt. Gespannt verfolgte ich im Bunker über Drahtfunk die Radiomeldungen und hörte, daß die amerikanischen Piloten ihre Bombenlast konzentriert über Sachsenhausen abwarfen.
Sofort nach der Entwarnung fuhr ich mit dem Fahrrad in das Sachsenhäuser Werk. Eine halbe Stunde später war ich bereits dort und sah, was die Bomben angerichtet hatten. Eine Luftmine, die beim Explodieren einen so gewaltigen Druck erzeugt, daß er den Menschen im weiten Umkreis die Lungen zerreißt, hatte den provisorischen Luftschutzstollen auf dem Fabrikgelände getroffen. Dieser Unterstand diente den über achtzig im Werk Süd eingesetzten russischen Zwangsarbeiterinnen als Schutz gegen Bombenangriffe. Die Deutschen liefen bei Fliegeralarm in den nahen bombensicheren Bunker in der Schifferstraße. Für Fremdarbeiter war der Aufenthalt im Bunker verboten, sie mußten sich in dem Luftschutzstollen, den die kleinste Bombe durchschlagen konnte, unterstellen. Die Erdschicht darüber betrug knapp zwei Meter. Nicht einmal einer deutschen Aufsichtsperson mutete man den lebensgefährlichen Aufenthalt in diesem Provisorium zu. So war der Fliegeralarm die einzige Zeit, in der die Fremdarbeiterinnen unbeaufsichtigt waren. Ich habe selbst erlebt, in welch panischer Angst sich die Frauen dort befanden. Sie wußten sehr gut, daß jede Bombe, die den Stollen traf, ihren Tod bedeutete. Verzweifelt riefen sie, wenn die ersten Bomben einschlugen, nach ihrer Mamitschka, weinten, und viele beteten unablässig.
Wenn der Bombenhagel zu schnell nach dem Alarm begann und der rettende Schifferbunker nicht mehr zu erreichen war, suchten einige wenige Deutsche, die sich verspätet hatten, in dem Stollen Schutz. So war es auch diesmal. Sechs Deutsche und achtundsiebzig Russinnen befanden sich darin, als die Luftmine einschlug. Alle vierundachtzig Personen waren auf der Stelle tot. Nur acht russische Frauen, die sich in Nebenräumen der Fabrik versteckt hatten, weil sie den Aufenthalt im Stollen für noch gefährlicher hielten, überlebten.
Aus den Meldungen des Drahtfunks war meistens zu erkennen, ob die anfliegenden Bomberverbände Kurs auf Frankfurt hatten. War das nicht der Fall, ging ich bei Alarm zu den Russinnen in den Luftschutzstollen. Auch an diesem Morgen schien es, als ob der Angriff einer anderen Stadt gelten würde. Aus Bequemlichkeit wäre ich also in den Stollen gegangen. So habe ich es nur dem Zufall zu verdanken, daß ich nicht zu den Opfern dieses Bombenangriffs gehörte.
Bereits am späten Nachmittag des gleichen Tages wurden die Bombenopfer durch eine Einheit des Technischen Notdienstes geborgen. Die Luftmine hatte den Eingang des Stollens getroffen. Als er nach einigen Stunden freigelegt war, konnte man fast ungehindert zu den Toten gelangen. Bei allen war der Tod durch Zerreißen der Lungen eingetreten.
Ich war während der Bergungsarbeiten im Werk geblieben, um bei eventuell notwendigen Identifizierungen behilflich zu sein. Bis am späten Abend die Särge kamen, lagen die toten Russinnen und die Deutschen, zwei Kinder, zwei Frauen, ein junger Flakhelfer und ein gehbehinderter älterer Hilfsarbeiter, nebeneinander auf ausgerolltem braunem Packpapier. Es sah aus, als ob sie alle schliefen. Ein Priester war auf den Hof gekommen, betete und erteilte die letzten Sakramente. Mittlerweile hatten sich auch die Angehörigen der deutschen Opfer eingefunden. Ihr Wehklagen erfüllte den Hof.
Um die toten Russinnen klagte niemand.
Fast jede Nacht gab es Fliegeralarm, und wir mußten viele Stunden im Luftschutzkeller verbringen, zu dem die Kellergewölbe der ehemaligen Weinhandlung im Vorderhaus der Kaiserhof Straße 12 ausgebaut worden waren. Sie hatten stählerne Türen, Gasschleuse, Frischluftschächte, Notstromaggregat, Sanitätsraum und weitere Schutzvorrichtungen, die aber eher der Täuschung der Bevölkerung als dem wirklichen Schutz vor Bombentreffern dienten. Wenn des Nachts, und immer öfter auch am Tag, die Sirenen aufheulten, eilten aus den umliegenden Häusern die Bewohner mit ihrem Luftschutzgepäck in unseren Keller. Es waren zwischen achtzig und hundert Personen, die meist schon ihren Stammplatz hatten, und sie warteten zitternd darauf, ob diesmal wieder das schauerliche Pfeifen der fallenden Bomben zu hören sein werde. Mit dem ersten Sirenenton begann auch die große Stunde der Frau Morschhäuser. Die resolute Frau des kleinen hinkenden Flickschneiders vom Mansardenstock war die mit vielen Befugnissen ausgestattete Luftschutzwartin und zudem eine gefährliche, weil fanatisierte Hitlerverehrerin. Alle Mitbewohner fürchteten sie und nahmen sich vor ihr mit politisch unbedachten Bemerkungen in acht. Zum Ausweis ihrer Würde trug sie eine schwarzweiße Binde mit den Buchstaben LS am Arm, einen Stahlhelm auf dem Kopf, der vor Granatsplittern schützen sollte, einen Erste-Hilfe-Beutel über der Schulter, eine Taschenlampe am Gürtel und die Volksgasmaske in der Hand.
Schon auf der Treppe zum Luftschutzkeller kommandierte sie die Verängstigten: »Schneller, schneller, es wollen alle in den Keller runter, bevor die Bomben fallen!« Sie allein verteilte die Sitzgelegenheiten, verbot lautes Sprechen oder das Wechseln der Plätze, schimpfte mit den unruhig werdenden Kindern, bestimmte, wann die eiserne Tür geöffnet wurde, und drohte mit »Meldung machen«, wenn während des Alarms jemand für eine Zigarettenlänge nach oben oder schon nach der Vorentwarnung den Keller verlassen wollte. Sie saß auch nie, lief immer nur herum, um alles und alle beobachten zu können. Wenn sie aber mal für kurze Zeit ruhig stand, dann in der offenen Gasschleuse. Die war sozusagen ihre Kommandobrücke.
Nie zuvor in ihrem Leben hatte Frau Morschhäuser so große Verfügungsgewalt über Menschen, hatte sie so viel Macht. Im Luftschutzkeller veränderten sich ihre Stimme, ihr Gang, ihre Bewegungen, sogar das Verhältnis zu ihren Mitmenschen - wenn sie zum Beispiel einem verängstigten Mütterchen in einer Weise Mut zusprach, als sei ihr selbst Angst ein Fremdwort.
Für Frau Morschhäuser waren diese Stunden, da die Bomben die Stadt in Trümmer und Asche verwandelten, Höhepunkte ihres Lebens. Ich kann mir gut vorstellen, daß sie wegen dieses gesteigerten Lebensgefühls den Krieg und die Angriffe auf Frankfurt noch gern sehr lange hingenommen hätte. Sie wußte, daß nach dem Ende des Krieges auch sie wieder in das armselige, trostlose Nichts ihrer Flickschneiderei versinken würde. Die Luftschutzwartin Morschhäuser war eines jener merkwürdigen Nachtschattengewächse, die der Krieg hervorbrachte und die mit dem Kriegsende auch wieder verschwanden.
Es war im Januar 1945. Mama war bereits tot, Alex und ich befanden uns beim Militär. Wie schon so oft zuvor, saßen Papa und Paula auf den ihnen von Frau Morschhäuser zugewiesenen Plätzen im Luftschutzkeller. Mehrere Angriffswellen waren schon über Frankfurt hinweggegangen. Der Keller zitterte von den Einschlägen der Bomben in der näheren Umgebung. Aus den Mauerfugen löste sich Kalkstaub und verursachte Hustenreiz. Kinder brüllten, Frauen stöhnten und weinten oder beteten. Auch Papa und Paula hatten große Angst, denn noch nie zuvor waren so viele Bomben im Innenstadtbereich gefallen wie diesmal. Plötzlich gab es einen fürchterlichen Schlag, der Keller wurde ein ganzes Stück hochgehoben, Flaschen fielen um, Tassen und Teller klirrten, und das Licht ging aus. Alle schrien. Dann war Stille. Taschenlampen wurden angeknipst. Nach einer Weile setzte sich das Notstromaggregat in Gang, und die Birnen leuchteten wieder schwach. Eine dunkle Staubwolke hing in allen Kellerräumen, und die schwer atmenden und hustenden Menschen preßten sich feuchte Tücher vor Mund und Nase. Von ihrer Kommandobrücke in der Gasschleuse rief Frau Morschhäuser: »Gasmasken aufsetzen, bis sich der Staub verzogen hat!« Das war zwar ein blödsinniger Befehl, denn feuchte Taschentücher taten dieselbe Wirkung und waren weitaus bequemer, trotzdem folgten einige ihrer Anweisung. Kurz darauf war sie wieder zu hören, ihre Stimme klang wie die eines Rekrutenausbilders: »Meine Herrschaften, kein Grund zur Aufregung, in unserem Haus ist nichts passiert. In der Nähe muß ein Haus eingestürzt sein.«
Die Eisentüren der Gasschleuse wurden weit geöffnet, bald surrten auch die Frischluftventilatoren, und allmählich zog der Staub ab. Mit Erleichterung hörten die Menschen im Keller, daß niemand verletzt oder gar verschüttet sei, und die Panikstimmung legte sich.
Eine halbe Stunde später war Entwarnung. Alle liefen auf die Straße hinaus, um zu sehen, was passiert sei, aber es war nirgendwo etwas zu entdecken. Jeder ging schnell in seine Wohnung, um den unterbrochenen Schlaf fortzusetzen. Auch Papa und Paula gingen, immer noch etwas benommen, über den Hof ins Hinterhaus. Dessen linke Hälfte war bereits einige Wochen zuvor von einer Brandbombe getroffen worden und ausgebrannt. In der rechten Hälfte wohnten zu dieser Zeit nur noch Papa und Paula, die anderen Mitbewohner hatten sich evakuieren lassen. Da schrie Papa auf, stolperte, und Paula konnte ihn gerade noch festhalten. In der Dunkelheit wäre er beinahe in ein großes Loch gefallen, das plötzlich im Hof entstanden war. Mit ihren Taschenlampen versuchten sie, in das Loch hineinzuleuchten, sahen aber nichts.
Sie vermuteten, daß wahrscheinlich an dieser Stelle das Bruchstück eines abgeschossenen Bombenflugzeuges eingeschlagen sei. Doch als sie am anderen Morgen zum Fenster hinausschauten, stellten sie mit Entsetzen fest, daß das Loch im Hof fast kreisrund war und einen Durchmesser von etwa zwei Metern hatte.
Am Nachmittag entdeckten Spezialisten vom Technischen Notdienst in dem Loch eine Zehnzentnerbombe, den schwersten Bombentyp, der im Luftkrieg gegen Deutschland verwendet wurde. Die Bombe hatte unmittelbar neben dem Luftschutzkeller einen Hohlraum durchschlagen und sich noch drei Meter tief in das Erdreich gebohrt, ohne zu explodieren. Andernfalls wäre keine Maus mehr aus dem Keller herausgekommen, und von den Häusern 10, 12 und 14 samt ihren Hinterhäusern wäre kein Stein mehr auf dem andern geblieben.
Bis das Haus Kaiserhofstraße 12 in den sechziger Jahren abgerissen wurde, weil es einem Parkhaus weichen mußte, war das Bombenloch im Hof zu sehen. Man hatte es nach der Beseitigung des Blindgängers mit Sand aufgefüllt. Die kleineren Kinder des Hauses spielten jahrelang in dem kreisrunden Loch wie in einer Sandkiste.